Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat in ihrem Gesellschaftsvertrag festgeschrieben, dass alle das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt haben. Dafür soll eine ökologische Wirtschaft aufgebaut und Land, Wasser und Energie den Menschen zur Verfügung gestellt werden. Doch ist die Region in der Klimakrise und aufgrund des anhaltenden Krieges vor große ökologische Herausforderungen gestellt.
Rojava zieht sich entlang der türkisch-syrischen Grenze im Schatten des Taurus-Gebirges vom Irak bis fast ans Mittelmeer. Im Süden reicht die Region ins syrische Wüstenland. Kühle und regenreiche Herbst- und Wintermonate wechseln sich mit trockenen Sommern ab. Gerade an den Flussufern des Euphrat, Xabur und Tigris sowie in der Region Afrin finden sich viele fruchtbare Böden – beste Bedingungen für eine ökologische Landwirtschaft. Doch sieht, wer sich mit Nachhaltigkeit und Ökologie in der Region beschäftigt, vor allem Widersprüche.
Auf der einen Seite bietet die Selbstverwaltung seit der Revolution von 2012 zahlreiche Bildungsangebote an, um ein ökologisches Bewusstseins zu vermitteln. Vor kurzem wurde zudem ein neuer Ökologie-Rat für die gesamte Region gegründet, der praktische Lösungen entwickeln soll.
Auf der anderen Seite steht der Nordosten Syriens vor zahlreichen ökologischen Herausforderungen. Die Selbstverwaltung hat mit Wasserknappheit und Kriegsfolgen zu kämpfen. Die Klimaerwärmung bringt Hitzewellen mit sich und es regnet immer seltener, was den Großteil der Ernteerträge vernichtet. Daneben stecken die Türkei und mit ihr verbündete islamistische Milizen grenznahe Felder in Brand, wodurch jährlich zusätzlich zehntausende Hektar landwirtschaftliche Fläche verbrennen. Im Sommer sind in der Region Temperaturen von 45 Grad keine Seltenheit und das Grundwasser sinkt. Was dies praktisch bedeutet, sieht man in der Region Heseke. Im Sommer sind dort über eine halbe Millionen Menschen von Wasserlieferungen durch LKWs abhängig. Dafür ist auch die Aufstauung der Flüsse durch türkische Staudammprojekte verantwortlich. Verunreinigtes oder stehendes Wasser führt zudem zu Ausbrüchen tödlicher Krankheiten, wie Cholera.
Die Grundversorgung mit Wasser und Strom ist auch durch Sanktionen stark eingeschränkt. Ein ausgebautes Netz gibt es nicht, größtenteils läuft die Versorgung über umweltschädliche und ineffektive Diesel-Generatoren, die das Erscheinungsbild Rojavas ebenso stark prägen, wie kleine Öl-Öfen in Privatwohnungen, die dort die Luftqualität verschlechtern. Die Generatoren versorgen die Häuser mit Strom und betreiben die Wasserpumpen für die Landwirtschaft. Vor diesem Hintergrund stellten die türkischen Angriffe im vergangenen Winter die Region vor nie dagewesene humanitäre und ökologische Herausforderungen. Meldungen zufolge wurden ca. 80 Prozent der ohnehin bereits schwachen Infrastruktur, wie Umspannwerke oder Gasspeicher, durch die Bombardements zerstört.
Der ökologische Anspruch der Selbstverwaltung ist unter diesen Bedingungen nur schwer zu erfüllen. Doch gibt es Ansätze wie Aufforstungsprogramme, nachhaltige Düngung oder die Nutzung der Sonne zur Stromgewinnung. Diese Aufbauarbeiten gilt es zu intensivieren. Internationale Solidarität in Zeiten der ausufernden Klimakrise bedeutet auch, Verantwortung für die am meisten vom Klimawandel betroffenen Regionen zu übernehmen. Internationale Unterstützung, etwa bei der Dezentralisierung der Energieversorgung, kann einen wichtigen Beitrag für die Stabilität und die Zukunft dieses einzigartigen Projekts leisten.
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Stephen E. Hunt: Ökologie in der kurdischen Freiheitsbewegung, Wien 2023.